Einander nähren

Der Honig ist das biblische Symbol für den Genuss der Speisen. Als Israel aus der Sklaverei Ägyptens wegzieht und symbolisch zu verstehende „vierzig Jahre“ durch die Wüste ziehen muss, dient ihm das karge Manna als Speise – ein Sekret der Manna-Tamariske, das wie Harz ausgesondert wird und von den Pflanzen eingesammelt werden kann. Eine wahre Fastenspeise. Und doch beschreibt die Bibel sie als köstliche Festtagsspeise: „Das Brot schmeckte wie Honigkuchen“ (Ex 16,31). Dabei geht es nicht um physiologische Fakten, sondern um subjektive Geschmackswahrnehmungen. Die Erzählung in Ex 16 will die unübertreffliche Süßigkeit des Manna deutlich machen: Israel isst nicht nur das Manna, sondern kostet in ihm den Geschmack von Freiheit und Gerechtigkeit und den Vorgeschmack des Landes, „in dem Milch und Honig fließen“, wie die Bibel insgesamt achtzehnmal formuliert. Bis ins Hochmittelalter ist der Honig das, was seit dem 15. Jh. der Zucker ist: Der universale Süßstoff und der Inbegriff der Essenslust.

Doch auch die Bienen selbst haben in der abendländischen Tradition eine wichtige Symbolbedeutung. So schreibt Porphyrios aus Tyros (um 234 – 301/305), Bienen teilten ihren Honig freiwillig mit den Menschen, die sie versorgen – hier gehe es um ein wechselseitiges Schenken der Nahrung. Liebe zu und Mitgefühl mit den Mitgeborenen würden also geweckt, wenn man sich entsprechend ernähre.

Der amerikanische Philosoph Frederick Ferré erzählt, wie ein Mensch zusammen mit Gott die Schöpfung betrachtet. Vorwurfsvoll sagt der Mensch zu Gott: „Sieh, wie sie einander fressen!“ Gott schüttelt den Kopf und entgegnet: „Sie fressen sich nicht – sie füttern sich gegenseitig!“ Zwei Sichtweisen, die eine ist die evolutionsbiologische und sieht das Fressen und Gefressenwerden. Die andere ist die Sichtweise des Glaubens. Sie leugnet die andere nicht, setzt aber etwas hinzu: Leben ist Füttern und Gefüttertwerden. Leben ist Liebe und Hingabe. Die Biene, die ihre Nachkommen mit unendlichem Fleiß füttert und noch etwas für den Menschen übriglässt, ist ein großartiges Beispiel für diese Hingabe.

(Michael Rosenberger)