Reste verwerten

Um Lebensmittelreste erst gar nicht entstehen zu lassen, braucht es praktisches Erfahrungswissen zur genauen Kalkulation der Lebensmittelmengen – beim Einkaufen wie beim Kochen. Um unvermeidliche oder unvorhersehbare Lebensmittelreste weiter zu nutzen, braucht es ebenfalls praktisches Erfahrungswissen über die vielfältigen, kreativen Möglichkeiten der Resteverwertung. Dieses Wissen, das noch vor zwei Generationen zum Standardrepertoire der sparsamen Hausfrau gehörte, ist mit zunehmendem Wohlstand und abnehmender Zahl von Mahlzeiten daheim verloren gegangen. Früher gab es im Wochenlauf feste „Restertage“: Am Montag gab es die Reste vom Sonntagsbraten, am Samstag die Reste der Speisen der gesamten Woche. Im Haushalt kreativer Köchinnen konnten das mitunter die beliebtesten Wochentage sein, weil Speisen aus Resten ungemein köstlich zubereitet werden können.

Neben die Vermittlung praktischen Wissens muss die Vermittlung alter, aber verloren gegangener ethischer Grundhaltungen treten, die den Lebensmitteln jene Wertschätzung geben, die ihnen gebührt. Vor allem geht es um die Ehrfurcht vor dem Lebensmittel, wie sie sich in dem uralten, vorchristlichen und christlich weitervermittelten Brauch manifestiert, die Brotreste einzusammeln. Die alte Regel „Brot wirft man nicht weg“ hat bis zur Generation der Babyboomer eine große Bekanntheit und eine tiefe emotionale Verankerung gehabt. Viele Tischregeln sorgten dafür, dies praktisch bis ins Detail umzusetzen: Nicht zu viel auf den Teller nehmen! Was auf dem Teller ist, aufessen! Lieber zweimal kleine Portionen nehmen als einmal zu viel! Nicht mit dem Essen spielen! Doch seit dem Aufschwung der 1960er und 1970er Jahre geriet die Ehrfurcht vor dem Lebensmittel zunehmend ins Hintertreffen. In der Überflussgesellschaft hatte sie nicht die nötige Kraft, sich gegen den Wertverfall der Lebensmittel durchzusetzen. Sie muss also im neuen Kontext von Wohlstand und Überfluss neu gewonnen und konturiert werden. Durch die mediale Aufbereitung der letzten Jahre ist sie zumindest schon aus dem Dornröschenschlaf erwacht.

(entnommen aus: Michael Rosenberger, Im Brot der Erde den Himmel schmecken. Ethik und Spiritualität der Ernährung, München 2014)